2030 sollen in der EU bis zu 10 Millionen Tonnen sauberer Wasserstoff hergestellt werden, plant EU-Kommissionsvize Timmermans. Er will damit „grünen Stahl“ herstellen, Schwertransporte antreiben und nicht zuletzt die Wirtschaft ankurbeln.
In den ehrgeizigen Klimaplänen der Europäischen Kommission hat Wasserstoff lange keine Rolle gespielt. Die aufwendige und teure Umwandlung anderer Energieformen in Wasserstoff schien den Brüsseler Klimapolitikern alles andere als der Königsweg zum Ziel eines klimaneutralen Europa im Jahr 2050. Sie setzen eher auf eine weitere Elektrifizierung der Wirtschaft, um den CO2-Ausstoß mit „grünem Strom“ gen Null zu senken. Nun aber ist Wasserstoff auch in der Kommission angekommen. „Seit einem halben Jahr poppt das Thema links, rechts und in der Mitte auf“, sagt der für Klimaschutz zuständige Vizekommissionspräsident Frans Timmermans im Gespräch mit der F.A.Z. Mit ihrer neuen am Mittwoch vorgestellten Wasserstoffstrategie will die Kommission sicherstellen, dass die EU den Energieträger nicht nur sinnvoll einsetzt, sondern er zugleich zum Wachstumsmotor werden kann.
Der Strategiewechsel hat diverse Gründe. Zum einen gab es politischen Druck aus mehreren EU-Staaten wie Deutschland, Österreich, den Niederlanden, Belgien, Frankreich oder Portugal. Sie hatten die EU-Kommission aufgefordert, einen Fahrplan für den Ausbau von Wasserstoff vorzulegen. Zum anderen hat sich der wirtschaftliche Rahmen geändert. „Die Erzeugung von erneuerbarer Energie, vor allem von Windenergie auf hoher See, wird immer billiger und zugleich machen die trotz der Corona-Krise hohen CO2-Preise vor allem Kohle unrentabel“, sagt Timmermans. Eine Rolle spielt auch, dass die umstrittene Abspaltung und Speicherung von CO2 (CCS) nach Ansicht des Niederländers wieder eine Option ist. „Die brauchen wir in der Übergangsphase“, sagt Timmermans. Wasserstoff, der nicht „grün“, sprich aus erneuerbarer Energie, hergestellt sei, habe zwar keine Zukunft. In der ersten Phase aber führe an blauem Wasserstoff, bei dem CO2 abgespalten und gespeichert wird, kein Weg vorbei.
Bis 2024 allerdings soll nach Vorstellung der Kommission Elektrolysekapazität von 6 Gigawatt in der EU installiert sein, um bis zu eine Million Tonnen „grünen Wasserstoff“ im Jahr herstellen zu können. Bis 2030 sollen es dann schon 40 Gigawatt und bis zu 10 Millionen Tonnen sein. Die 5 Gigawatt, die Deutschland vor kurzem in seiner Wasserstoffstrategie als Ziel für 2030 ausgegeben habe, passten da wunderbar hinein, sagt Timmermans. Heute werden in der EU rund 10 Millionen Tonnen Wasserstoff erzeugt. 96 Prozent davon sind rein fossilen Ursprungs oder „grauer“ Wasserstoff. Voraussetzung für den Ausbau der Kapazitäten ist, dass die Kosten sinken. Denn bisher sind die Herstellungskosten von bis zu 5,5 Euro je Kilogramm für „grünen“ Wasserstoff und 2 Euro für „blauen“ Wasserstoff schlicht nicht wettbewerbsfähig. Entscheidend sei, ob die Kosten für die Elektrolyse, die in den vergangenen zehn Jahren um 60 Prozent gesunken seien, weiter sänken, sagt Timmermans. Dann könne „grüner“ Wasserstoff in Regionen mit günstigen Bedingungen für die Produktion erneuerbarer Energie 2030 wettbewerbsfähig sein und anschließend im großen Maßstab in ansonsten nur schwer zu dekarbonisierenden Sektoren genutzt werden.
Milliardenschwere Investitionen nötig
Die dafür nötigen Investitionen sind enorm. Allein für die benötigten Elektrolysekapazitäten müssen nach Schätzung der Kommission bis 2030 zwischen 24 und 42 Milliarden Euro bereitgestellt werden. Hinzu kommen 220 bis 340 Milliarden Euro, um die nötige Versorgung mit und Anbindung an Wind- und Sonnenkraft herzustellen. 65 Milliarden Euro werde für Lagerung und Transport gebraucht. Das Geld solle wenn eben möglich von privaten Investoren kommen, sagt Timmermans. Deshalb sei die enge Kooperation mit der Wirtschaft im Rahmen der ebenfalls am Mittwoch gegründeten „Allianz für sauberen Wasserstoff“ so wichtig. Diese soll konkrete Projekte etwa zum Bau von Gigawatt-Fabriken identifizieren, die dann von der EU oder den Staaten finanziell gefördert werden können. Die Kommission erwägt dafür verschiedene Optionen. Dazu gehört auch staatliche garantierte Preise („Carbon Contracts for Difference“). Auch Geld aus dem Wiederaufbaupaket der Kommission stehe bereit, sagt Timmermans. Von all dem erhofft er sich auch einen positiven wirtschaftlichen Effekt. Eine Million Arbeitsstellen könnten 2050 direkt oder indirekt an der Nutzung von „grünem“ Wasserstoff hängen.
Nutzen will die Kommission den sauberen Wasserstoff ähnlich wie auch die Bundesregierung für die Erzeugung von „grünem Stahl“ und anderen energieintensiven Produkten etwa der Chemiebranche. Das Potential dort ist enorm. Die deutsche Stahlindustrie hat einen Anteil von mehr als 8 Prozent an den hiesigen Emissionen. Entsprechend stark leidet sie unter den inzwischen trotz der Corona-Krise auf beinahe 30 Euro je Tonne gestiegenen Preisen für EU-Emissionsrechte. „Auch im Schiffsverkehr oder bei Schwertransporten und bei der Speicherung von erneuerbarer Energie kann Wasserstoff eine Rolle spielen“, sagt Timmermans. Die Wasserstoffstrategie ist deshalb in ein Programm zu Integration der Energiesysteme eingebettet. Dabei geht es darum, die einzelnen Energiesektoren miteinander zu verbinden (Sektorkoppelung). Das soll die Kosten für die Neuausrichtung der Energieversorgung senken, indem privat erzeugte Sonnenenergie für Elektroautos, Abwärme von Fabriken für das Heizen von Wohnungen oder eben aus Windenergie hergestellten Wasserstoff für Fabriken genutzt wird. In diesem Zusammenhang setzt die EU-Kommission weiterhin stark auch auf die Elektrifizierung von Industrie, Heizen und Transport. Erreichen will sie das nicht zuletzt durch eine Überarbeitung der EU-Energiesteuer-Regeln und die in vielen Staaten, auch Deutschland, verglichen mit Kohle, Gas oder Heizöl hohen Steuern und Abgaben auf Strom senken.