Gute Stimmung auf der Autobahnraststätte Gräfenhausen: Zwischen langen Reihen blauer Lastwagen haben Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter am Osterwochenende eine Gulaschkanone und einen Grill aufgebaut. Georgische Popmusik dröhnt aus übersteuerten Boxen. Es wird fotografiert, geklatscht und sich umarmt. Doch was aussieht wie das Frühlingsfest des DGB Südhessen, hat einen ernsten Hintergrund: Seit fast vier Wochen harren rund 60 Lastwagenfahrer aus Georgien, Usbekistan und Tadschikistan auf dem Rasthof bei Darmstadt aus. Sie wollen so lange bleiben, bis ihr Arbeitgeber, die polnische Firmengruppe Mazur, ausstehende Löhne bezahlt. Doch deren Chef schert sich offenbar weder um die Belange der Beschäftigten noch um Recht und Gesetz – und setzt auf Gewalt, um den Streik zu zerschlagen.
Der gleiche Ort zwei Tage vorher, am 7. April. Ein gepanzertes Fahrzeug und einige Bullis fahren vor. Männer in schutzsicheren Westen mit der Aufschrift »Rutkowski Patrol« springen heraus. Sie bedrängen die Fahrer, versuchen, die Türen der Lastwagen aufzureißen. Die Streikenden wehren sich, es kommt zu Rangeleien, bis die herbeigeeilte Polizei die Gruppen mit gezückten Schlagstöcken trennt. Als die uniformierten und teilweise vermummten Schläger zurückgedrängt und schließlich zusammen mit ihrem Chef verhaftet werden, klatschen die Fahrer euphorisch.
»Dass der Inhaber der Spedition einen paramilitärischen Schlägertrupp inklusive Panzerfahrzeug nach Deutschland schickt, um mit martialischer Bedrohung einen Protest von Lkw-Fahrern zu beenden, ist ein ungeheuerlicher Vorgang«, sagt Stefan Körzell vom Geschäftsführenden DGB-Bundesvorstand, der an dem Tag vor Ort ist. Die Festgenommenen stellten eine ernste Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung dar, die Ausweisung und Verhängung eines Einreiseverbots müsse geprüft werden.
Ende März war bereits der erste Versuch gescheitert, den Streikenden ihre Lastwagen wegzunehmen. Der Unternehmer war zusammen mit einem Minibus voller Ersatzfahrer aus Polen angereist, die den Streik brechen sollten. Doch diese weigerten sich, ihren streikenden Kollegen in den Rücken zu fallen. Ohnehin sind die wichtigsten Lastwagen, diejenigen mit Fracht, derart von leeren Lkw eingekeilt, dass eine Weiterfahrt schwer zu bewerkstelligen wäre. Der Chef zog unverrichteter Dinge wieder ab und kam eine Woche darauf mit dem Schlägertrupp wieder.
Erreicht hat er damit vor allem eines: Den Streik überregional bekannt zu machen. Auch in der Politik wird der systematische Gesetzesbruch auf deutschen Straßen dadurch zum Thema. Am Ostersonntag sind Aktivisten und Politiker von SPD und Linke vor Ort, um ihre Solidarität zu zeigen. »Was hier passiert ist, das sind nichts anderes als Gangster-Methoden«, ruft der Arbeitsminister von Rheinland-Pfalz, Alexander Schweitzer (SPD), den Streikenden zu. Die Vorfälle müssten wachrütteln. »Die deutsche Politik muss alle Kollegen schützen, bei denen der Mindestlohn und der Arbeitsschutz umgangen werden.« Der SPD-Politiker kündigt an, dies beim nächsten Treffen der Arbeits- und Sozialminister*innen zum Thema zu machen.
Lkw-Fahrer*innen, die in Deutschland tätig sind, müssen laut Gerichtsurteilen wenigstens den deutschen Mindestlohn erhalten – unabhängig davon, woher sie kommen und wo das Unternehmen seinen Sitz hat. In der Realität dürfte diese Vorgabe nicht nur bei den Firmen der Mazur-Gruppe, Lukmaz, Agmaz und Imperia, systematisch umgangen werden. Ein aus Tiflis stammender Kollege berichtet, er verdiene 89 Euro am Tag – inklusive Spesen. Neueingestellte erhalten ihm zufolge nur 75 bis 80 Euro. Sie fahren oft monatelang durch Europa, ohne ihre Familien zu sehen. Begonnen hat der Streik, als Mazur plötzlich erklärte, den Sonntag nicht mehr zu bezahlen. Daraufhin stoppten die untereinander gut vernetzten Fahrer an verschiedenen Rastplätzen in Deutschland, Italien und der Schweiz. Die anderen Versammlungsorte sind mittlerweile aufgelöst, viele haben sich ihren Kollegen in Gräfenhausen angeschlossen.
Dort erhalten sie viel Unterstützung. Gewerkschaftsaktive aus der Region kommen fast täglich vorbei und bringen Lebensmittel. Hilfe kommt auch von der niederländischen Gewerkschaft FNV und vom Beratungsnetzwerk »Faire Mobilität« des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB). Sogar aus Südkorea haben Tausende, in der Gewerkschaft KPTU organisierte Lastwagenfahrer per Video eine Solidaritätsbotschaft an die Streikenden nach Gräfenhausen gesandt, die postwendend auf Koreanisch zurückgrüßen. »Die Kollegen sind fest entschlossen, ihre Rechte einzufordern«, betont Anna Weirich von »Faire Mobilität«, die die Fahrer auf Russisch berät. »Sie sind in einer extrem schwierigen Situation. Die Solidarität ist super-wichtig.«
Wichtig wäre auch ein Eingreifen der Kunden von Mazur, darunter Firmen wie Volkswagen, Ikea und Siemens. Edwin Atema von der Gewerkschaft FNV verweist darauf, dass diese Konzerne allesamt den Global Compact der Vereinten Nationen unterschrieben haben, der Arbeitnehmerrechte garantieren soll. »Diese multinationalen Unternehmen müssen Verantwortung übernehmen«, fordert der Gewerkschafter unter dem Applaus der Kollegen. »Bei ihnen liegt die Lösung dieses Konflikts.«