Sie campieren auf Rastplätzen und sind monatelang von ihren Familien getrennt: Die Arbeitsbedingungen vieler Trucker sind katastrophal, oft kennen sie ihre Rechte nicht, beklagt der DGB. Ein Projekt soll das ändern
Die Kennzeichen der Lastwagen verraten Michael Wahl, wo er mit seinem Anliegen richtig ist. Zügig schreitet er eine Reihe geparkter Fahrzeuge ab. CZ, RO, H – kaum ein deutsches Nummernschild ist darunter. Er stoppt vor einem Brummi mit PL für Polen und winkt dem Mann in der Kabine mit einem orangefarbenen Zettel zu. Die Fensterscheibe wird heruntergelassen. „Dzien dobry!“, sagt Wahl. „Guten Tag.“ Und weiter auf Polnisch: „Wir verteilen Flyer, um Sie über Ihre Rechte in Deutschland zu informieren.“ Dann fragt er, ob der Mann über den gesetzlichen Mindestlohn Bescheid wisse.
Viele Fahrer, die er an diesen und anderen Tagen auf den Mindestlohn anspricht, schütteln den Kopf. Wenn Wahl mit seinen Flyern von Truck zu Truck zieht, wird er manchmal zuerst für jemanden von den Zeugen Jehovas gehalten.
Für das Projekt „Faire Mobilität“ des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) koordiniert Wahl Beratungen für ausländische Fernfahrer, die in Deutschland unterwegs sind. An diesem Nachmittag ist er zusammen mit einem Kollegen und einer Kollegin an der Raststätte Hohenlohe Süd bei Neuenstein im Nordosten Baden-Württembergs ausgeschwärmt. „Viele Fahrer wissen nicht, was ihnen gesetzlich zusteht“, sagt Wahl. Sie sprechen Polnisch, Tschechisch und Bulgarisch. In der Landessprache angesprochen, öffnen viele Trucker bereitwillig ihre Türen.
Der Fahrer des polnischen Lasters heißt Michal und hat Teile für Motorsägen geladen. Er reicht Wahl einen Zettel heraus, auf dem seine Arbeitszeit penibel erfasst ist. 83 Stunden hat er demnach im Januar auf deutschen Straßen zugebracht. Zeit, für die ihm per Gesetz der deutsche Mindestlohn von derzeit 9,19 Euro zusteht. Der wird ihm laut Papier auch gezahlt. Allerdings wird dabei auf einen beliebten Trick zurückgegriffen, wie Wahl erklärt.
Der Fahrer erhält eine Tagespauschale, also Spesen. Sie liegen meist bei 40 bis 60 Euro. Darauf muss der Arbeitgeber weder Sozialabgaben noch Steuern zahlen. Diese Summe wird auf den Mindestlohn angerechnet – zu Unrecht, sagt Wahl. Ihm zufolge müsste es die Pauschale obendrauf geben. Hat der Fahrer Urlaub oder ist krank, fallen die Spesen weg und er erhält lediglich einen Grundlohn – oft gerade mal 400 bis 600 Euro.
Seit Mitte 2017 hat der Gewerkschaftsbund etwa 50 bis 60 Aktionen auf deutschen Rasthöfen gestartet und dabei rund 3000 Fahrer angesprochen. „Verbessert hat sich in der Zeit nichts“, sagt Wahl. „Die Arbeitsbedingungen sind oft katastrophal.“
Wahl läuft einen schmalen Gang zwischen zwei Lastwagen hindurch. Er trägt eine gelbe Warnweste und in der linken Hand einen Korb mit Flyern und Brotdosen als Geschenk. Plötzlich bleibt er stehen und deutet auf einen geflickten Riss in einer Plane. „Da hat jemand nachgesehen, ob hier etwas zu holen ist.“ Bei Dieben sei dieses Vorgehen beliebt. Erst schneiden sie ein Guckloch, wie Wahl erläutert, und greifen anschließend zu teils dramatischen Mitteln: Sie leiten Gas in die Kabine, um die Fahrer zu betäuben. Dann räumen sie hinten die Ladefläche aus.
Im nächsten Truck sitzt Marek aus Polen. Er fährt Autofelgen quer durch Europa. Zum Schlafen quetscht er sich auf eine schmale Pritsche hinter den Sitzen. Ist er mehr als eine Woche unterwegs, verbringt er auch die vorgeschriebene längere Ruhezeit von 45 Stunden in der wenige Quadratmeter großen Kabine. „Meine Kinder sagen schon lange: Hör auf mit diesem Job“, übersetzt Wahl für ihn.
Dabei sieht Marek seine Familie zumindest regelmäßig. Andere osteuropäische Fahrer kehren oft monatelang nicht heim. Die tschechisch sprechende DGB-Kollegin Stanislava Rupp-Bulling sagt: „Die Situation belastet die Fahrer psychisch. Sie sind von ihren Familien getrennt und sehen die Kinder nicht aufwachsen.“
Das Essen in den Raststätten ist Marek und anderen Truckern meist zu teuer. Er hat einen Mini-Kühlschrank dabei, den ihm seine Frau mit vorgekochten Mahlzeiten, Milch, Wurst und anderen Lebensmitteln gefüllt hat. Sein Landsmann Rafal kocht selbst – im Laster: Er hat einen Gaskocher zwischen Fahrer- und Beifahrersitz gestellt, über dessen Flamme ein Topf Gulasch köchelt.
Den Mindestlohn könnten die Fahrer gegenüber ihren Arbeitgebern einfordern. Doch viele fürchten, dann ihren Job zu verlieren – oder sie kennen sich mit dem geltenden Recht nicht aus. Die Regelungen sind komplex und kaum zu durchschauen. Was gilt etwa, wenn ein Serbe für ein slowenisches Unternehmen Aufträge in Westeuropa fährt? Theoretisch müsste der Zoll die Einhaltung des Mindestlohns überprüfen. Doch nach den Erfahrungen der DGB-Mitarbeiter finden solche Kontrollen kaum statt. Ein Sprecher des Zolls verweist auf Nachfrage darauf, dass die Einhaltung des Mindestlohns in allen Branchen regelmäßig kontrolliert werde. Eine gesonderte Statistik gebe es aber nicht.
Anfang April sind die Arbeitsbedingungen in der Transportbranche im EU-Parlament hitzig diskutiert worden. Abgeordnete wollen durchsetzen, dass die Fernfahrer alle vier Wochen nach Hause zurückkehren dürfen und ihre Wochenruhezeit im Hotel statt in der Kabine verbringen. Außerdem soll der nationale Mindestlohn immer dann gelten, wenn eine ausländische Firma Güter innerhalb eines Landes transportiert. Fahrten zwischen mehreren Ländern wären davon aber ausgenommen.
Diese Lohn-Regelung sieht Wahl kritisch, weil das EU-Parlament damit aus seiner Sicht Beschäftigte in zwei Klassen einteilt: „Mal haben sie einen Mindestlohnanspruch am Ort, an dem sie arbeiten, mal haben sie keinen“, sagt er. „In Zukunft müssen wir einem großen Teil der Fahrer erzählen, dass sie für Touren quer durch Westeuropa nur einen Anspruch auf mickrigen Lohn aus Osteuropa haben, obwohl sie den überwiegenden Teil ihrer Arbeit in Westeuropa verrichten.“
Er und sein Team werden daher auch weiterhin die gelben Westen überstreifen, sich ihren Korb mit Flyern und Brotdosen schnappen und über die Rasthöfe ziehen.
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