Wie bekommt man innerstädtische Sattelzug-Pendelverkehre mit Autoteilen CO2-neutral hin? Diese Frage stellte sich die Scherm Group. Und fand eine unkonventionelle Antwort.
So viel Rummel gibt es selten bei einem dezent im Hintergrund „dienstleistenden“ Logistiker wie Scherm. Doch an diesem 7. Juli 2015 läuft der bundesweit erste Elektro-Sattelschlepper mit Straßenzulassung bei einem Automobillogistiker „vom Stapel“. Hohe Politik in Gestalt der Bayerischen Staatsministerin für Wirtschaft Ilse Aigner (CSU), Stadtrat Jens Röver (SPD) sowie das Management von Scherm und BMW geben sich ein Stelldichein. Was natürlich auch zeigt: Elektromobilitätsprojekte wie dieses sind immer noch absolute Einzelfälle, mit denen sich Politiker umso lieber schmücken. „Ein Pionier-Tag.
Dieses Projekt ist in der Automobillogistik ohne Vorerfahrung“, schwärmte nicht ohne Grund der sonst sehr zurückhaltend auftretende Geschäftsführer Kurt J. F. Scherm. Insofern war die leichte Aufregung verständlich, die der Logistikprofi unumwunden zugab. Von der Idee bis zur Ausführung liegen an diesem Julitag zwei Jahre hinter den Verantwortlichen, das letzte Jahr als heiße Phase der Umsetzung inklusive ersten Testfahrten. „Anfangs haben wir tatsächlich über eine Eigenentwicklung nachgedacht, das aber als zu aufwendig verworfen“, erzählt Scherm. Die schwere Aufgabe, die er und sein Logistikleiter Helmut Geisler sich stellten, war: Wie organisieren wir einen CO2-neutralen Transport von vormontierten Autoteilen im Just-In-Sequence- Verfahren und mit dem üblichen Volumensattel? Die Strecke: Scherm-Logistikzentrum an der Wilhelmine-Reichard-Straße im Münchner Norden bis ins drei Kilometer entfernte BMW-Stammwerk. Eine harte Nuss.
Ein Traktor für die Straße
Irgendwann stieß man auf den Elektroschlepper von Terberg. Den hatte der Spezialfahrzeughersteller aus dem niederländischen Benschop zwar schon 2012 auf der IAA als elektrische Version des sonst konventionell dieselgetriebenen Models YT „vorgestellt“. YT steht für „Yard Tractor“, was schon andeutet, in welchem Revier der Terberg sonst unterwegs ist: Auf Speditionshöfen, Verteilzentren in Containerbahnhöfen, Flugplätzen oder Hafenanlagen setzt das Gerät als „Hofhund“ die Standardboxen oder Trailer um. Viele kleine und kurze Wege, bei denen Manövrierfähigkeit und Übersichtlichkeit vor Komfort gehen. „Damals wollten wir mehr eine Idee geben und die Reaktionen abtesten, ohne die Kunden unserer konventionellen Fahrzeuge vor den Kopf zu stoßen.
Eine Straßen-zulassung lag in weiter Ferne“, erzählt Markus Müller, Key Account Manager bei Terberg. Und so hat es gedauert, bis das Elektrofahrzeug überhaupt ausentwickelt war. 2014 wurde der Terberg mit dem Namen YT202 EV (EV für Electric Vehicle) dann offiziell präsentiert: eine 4×2- Sattelzugmaschine mit 65 Tonnen zulässigem Gesamtgewicht, einem zugkräftigen 138-kW-Siemens- Gleichstrom-Elektromotor, standardmäßig einem 112-kW/h- Lithium-Ionen-Akku verteilt auf zwei Batteriepacks für sieben bis acht Betriebsstunden. Mit der Option auf Erweiterung um einen dritten Akku bis auf 160 kW/h Kapazität schafft das Fahrzeug dann neun bis zehn Stunden Einsatz.
Auch in Berlin im Einsatz
Mittlerweile operiert der schwere Stromer laut Hersteller in diversen Containerterminals und Verteilzentren in den Niederlanden, Dänemark, Deutschland und der Schweiz. Jedoch selten auf öffentlichen Straßen. So ganz ohne Vorbild ist aber auch dieser Einsatz nicht: In Berlin wollte man auch wissen, wie sich die letzte Meile CO2-frei bewältigen lässt. Bei der Behala im Westhafen lief eben jene Terberg-Elektro-Zugmaschine YT202 EV seit 2013 im Probebetrieb, seit 2014 im Regelbetrieb. Dort liefert der Schlepper, analytisch begleitet von der Agentur für Elektromobilität (eMO) und der TH Wildau, seither Rohkaffee vom Terminal zu einer Rösterei – mit Straßenzulassung. In München absolvierte der Terberg-Schlepper dafür im Beisein einer Ministerin seine erste Automobillogistiktour. In Zukunft soll das Fahrzeug auf dieser Route in zwei Schichten täglich 50 Kilometer zurücklegen, was acht Touren entspricht. Die Tagesfahrleistung sei ohne Zwischenladen der Zugmaschine möglich. „Als Anbieter von Transportlösungen ist uns wichtig, auch nachhaltige Transporte anzubieten. Der Elektro-Lkw ist der erste Schritt in Richtung CO2-reduzierte Transportlogistik. Wir wollen einen neuen Trend setzen“, lehnt sich Scherm aus dem Fenster.
Eigens hat man daher eine Starkstrom- Ladesäule auf dem Firmengelände errichtet. Die natürlich regenerativ produzierte Öko-Energie bezieht man von den Stadtwerken Ingolstadt. Das Aufladen geht mit drei bis vier Stunden relativ flott. Beide Seiten, BMW wie Scherm, seien einander bei der Umsetzung des Projekts sehr entgegengekommen, deutet ein BMW-Sprecher die Gespräche hinter den Kulissen an. Eigentlich drei Seiten, denn auch für Terberg war es ein „Prestigeprojekt“, wenn ein weltweit bekannter Automobilhersteller auf Elektroschlepper aus den Niederlanden setzt. Und das ist erst einmal ein hohes Investment, auch wenn man traditionell in der Branche zu Preisen vornehm schweigt. In der Anschaffung liegt der vollelektrische Sattelschlepper etwa zweieinhalb mal so teuer wie ein konventionelles Pendant, deutet Terberg-Mann Müller immerhin an. Eine Amortisation falle daher noch schwer, sei aber durchaus möglich. Müller weist etwa auf die weit geringeren Wartungskosten hin, die über 30 Prozent unter denen eines Dieselschleppers lägen: so gut wie keine Motorwartung, keine Schmierstoffe, fast kein Bremsverschleiß. Zudem lägen die Energiekosten des mit einer effizienten Rekuperation ausgestatteten Lkw natürlich um ein Vielfaches niedriger, Faustregel für Elektrofahrzeuge: mindestens die Hälfte günstiger. Die Umwelt profitiert natürlich am meisten: Der vollelektrische Schlepper spare im Vergleich zu einem dieselgetriebenen Lkw 11,8 Tonnen CO2 jährlich ein, rechnet BMW vor.
Würde man das umlegen auf die 600 „konventionell“ beförderten Lkw-Ladungen, die täglich laut brummend das Münchner BMW-Werk erreichen, es käme eine erkleckliche Menge zusammen. Auch für die BMW Group war es ein Prestigeprojekt, das sich laut Werksleiter Hermann Bohrer einfügt in den Kontext der Modernisierung des im immer dichter besiedelten Münchner Stadtgebiet liegenden Stammwerks. Natürlich spielt das Thema Geräuschemission eine Rolle: „Wir bewegen uns hier in hochsensiblem Bereich.“ Insofern ist dieser Lkw auch ein Signal an die Stadtpolitiker. In der Tat, so geräuscharm wie der Terberg-Schlepper fährt kein dieselbetriebener Lkw an: Leise surrend setzt sich das Gefährt fast wie von Geisterhand in Bewegung. Die gut 40 km/h, ab denen die Abrollgeräusche normalerweise den (beschleunigenden) Motor übertönen, erreicht man im Stadtgebiet ohnehin kaum.
Ansatzloser Antritt
Im Nebeneffekt steht, wie bei Elektromotoren üblich, das maximale Drehmoment von in diesem Falle 720 Nm vom Start weg zur Verfügung, weswegen der Sattelzug kein Problem hat, im Stadtverkehr mehr als gut mitzuhalten. Die 40 Tonnen Gesamtgewicht werden mit den eher voluminösen als schweren, in Gestellen gelagerten Autoteilen ohnehin selten ausgereizt. „Sehr angenehm zu fahren, so unkompliziert“, urteilt der Test- Chauffeur kurz und knapp. Terberg-Mann Müller ergänzt: „Genau in diesem Bereich der Niedriggeschwindigkeit bis maximal 40 km/h ist der E-Schlepper besonders effizient und dem Diesel weit überlegen. Bei dem verbrennt schließlich der Anfahrvorgang am meisten Energie.“ Oberhalb von 40 km/h ist dann nach Terberg- Erkenntnissen der Diesel effizienter, weswegen die holländischen Ingenieure ihren EV auch auf 40 km/h Höchstgeschwindigkeit begrenzt haben – wenn man will, eine energiesparende Maßnahme. Jürgen Maidl, Leiter Logistik der BMW Group, stimmte ein in den Kanon schwelgender Worte: „Mit diesem Projekt gewinnen wir wertvolle Erkenntnisse, was in puncto City-Logistik mittels Elektro- Lkws künftig möglich ist.“ Künftig, das ist das Zauberwort: Denn die Scherm-Gruppe will vorerst über ein Jahr Daten sammeln und klären, ob das Fahrzeug auch die „Versorgungssicherheit“ gewährleiste, die man für die Erfüllung des Kundenanspruchs benötige, wie der Chef skizzierte. Nach vier Wochen im Alltagseinsatz sah es ganz gut aus: Der Zweischichtbetrieb klappt selbst mit Klimaanlage ohne Nachladen, der Terberg hat sich nahtlos und unkompliziert in Ablauf und Fuhrpark eingefügt. Das letzte Wort hatte an diesem wortreichen Premierentag die Politik: Ministerin Aigner sah in dem Vorhaben „einen Leuchtturm, dem hoffentlich noch viele weitere Leuchttürme folgen werden“. Damit das hervorragende Scherm- Projekt nicht mehr ganz so einsam herausragt.