Die Digitalisierung und das automatisierte Fahren verändern nicht nur das Transportgewerbe, sondern auch den Lkw. Wie genau, erläutert der Nutzfahrzeug-Spezialist Dr. Michael Ruf von Continental im Interview.
Springer Professional: Wann sind automatisierte Fahrfunktionen auf Level 3 im Lkw praxistauglich?
Ruf: Praxistauglich wären sie heute schon, wenn der Gesetzgeber sie erlauben würde.
Also im Prinzip das gleiche Problem, das Audi derzeit auch mit dem A8 hat?
Ja, auch Audi hat das Problem. Genauso Mercedes und BMW. Alle haben es.
Audi rechnet damit, dass Anfang kommenden Jahres Level-3-Fahrfunktionen rechtlich erlaubt sein werden. Das wäre dann beim Lkw theoretisch auch der Fall?
Ja, ungefähr 2020. Es kommt immer darauf an, ob die OEMs das auch tatsächlich implementiert haben. Eine elektrische Lenkung ist beim Pkw ein bisschen einfacher und günstiger umzusetzen als beim Lkw. Und in den Entwicklungszyklen muss alles schon vorgesehen sein. Aber rein von der Technik her ist das sehr einfach. Wann die OEMs damit auf den Markt kommen, müssen Sie die Hersteller fragen.
Man hört viel von Vision Zero, aber momentan sind immer noch zum Beispiel Notbremsassistenten im Lkw abschaltbar. Warum ist das noch so und wann wird sich das ändern?
Das hängt von der Gesetzgebung ab. Da können wir auch nichts machen, aber wir halten das auch nicht für gut. Ein System sollte sich, wenn es mal kurzzeitig abgeschaltet ist, nach 10 bis 15 Sekunden wieder automatisch einschalten.
Jeder schiebt es auf die Gesetzgebung …
Ja, natürlich ist es auch die Gesetzgebung. Es gibt allerdings auch Stakeholder, die etwas dagegen haben, dass ein Gesetz kommt. Nehmen wir zum Beispiel den Rechtsabbiegeassistenten. Eigentlich ein No Brainer, wenn es darum geht Menschenleben zu retten. Es gibt aber Unternehmen, die die Zusatzkosten nicht tragen wollen. Und so lange es nicht laut Gesetz wirklich vorgeschrieben ist, wird es sich auch nicht auf breiter Front durchsetzen.
Die Zusatzkosten sind ein guter Punkt. Sie sagten, die Technik für Level 4 oder 5 rentiert sich nach einem Jahr. Ich war sehr überrascht, dass das so schnell geht. Auch andere Assistenzsysteme wären dann schnell abbezahlt, etwa ein Rechtsabbiegeassistent. Kann man das so sehen?
Die Amortisation nach einem Jahr bezieht sich auf Level 5. Die Frage ist schlichtweg, für wie viel bietet ein OEM nachher solch ein fahrerloses Fahrzeug mit Level-5-Technik an. Die Technik an sich ist nicht unendlich teuer, es stehen in der öffentlichen Diskussion rund 30.000 Euro im Raum, und wenn dieser Betrag in etwa stimmt, amortisiert sich das aus unserer Sicht innerhalb von einem Jahr. In der Tat wäre das ein toller Business Case.
Die Technik ist nicht besonders teuer, wenn ich das auf die Hardware beziehe, etwa auf Sensorsets. Wie wird so ein Sensorset aussehen?
Je mehr Sensoren ich habe, umso besser funktioniert das System. Was nicht heißt, dass es mit weniger Sensoren nicht auch funktioniert. Es gibt viele Möglichkeiten, wie ein Sensorcluster aussehen kann. Wichtig ist allerdings, dass mit diesen Sensoren nachher ein Umfeldmodell generiert wird und darauf basierend dann etwas, was wir „Sense-Plan-Act“ nennen: Das Umfeld erfassen, dann Planen und Ausführen. Was noch dazu gehört, ist ein Redundanzsystem. Aber in Summe besteht das System nachher idealerweise aus Radar, Kamera und Lidar.
Genau. Für einen Lkw mit 90 km/h ist das kein Thema. Das Problem in Deutschland ist, dass wir Verkehrsteilnehmer haben, die sehr schnell fahren. Diese müssen so frühzeitig erfasst werden, dass ein sich von hinten mit hoher Geschwindigkeit näherndes Fahrzeug und ein gleichzeitig ausscherendes Fahrzeug nicht miteinander kollidieren. Das heißt, es muss genügend Zeit zum Abbremsen zur Verfügung stehen. Das kann mit heutigen Sensoren und deren Reichweiten noch zu Problemen führen.
Genau. Für einen Lkw mit 90 km/h ist das kein Thema. Das Problem in Deutschland ist, dass ich nach hinten raus nicht weit genug schauen kann, sodass ich rechtzeitig ein sich schnell näherndes Fahrzeug erfasse. Man kann zwar auch mit der Kamera rückwärts schauen, aber das Radar muss ja die Geschwindigkeit detektieren. Das kann die Kamera teilweise auch über Differenzberechnungen.
Kommen wir zum Platooning – wird das tatsächlich irgendwann einmal zum Alltag gehören? Oder ist es ein Strohfeuer und wir fahren 2025 oder 2030 sowieso alle autonom?
Dann fahren die Lkw im Platoon auch automatisiert. Es gibt aber noch genügend ungelöste Probleme – zum Beispiel das Einscheren von Autos auf Beschleunigungsspuren oder das Verhalten bei Ausfahrten.
Ein Problem ist auch der geringe Abstand im Platoon – das ist eine große Belastung für den Fahrer. Was kann man dagegen tun?
Eine Lösung ist zum Beispiel ein Display, das dem Fahrer das Bild des ersten Fahrzeugs zeigt. Es ist eine unheimliche Hilfe, wenn der Fahrer sieht, dass vorne alles in Ordnung ist. Ansonsten ist das ein ganz komisches Gefühl: Sie bremsen, aber der Vorausfahrende verändert gar nicht den Abstand. Das ist eine völlig ungewohnte Wahrnehmung. Platoons sind eine der ersten Anwendungen, die es teilweise ja schon gibt. Zum Beispiel in Singapur, wo Platoons vom Hafen zu einem Verteilzentrum fahren. Das findet noch in einem abgesperrten Bereich statt, aber es spricht abgesehen von der Gesetzgebung eigentlich nichts dagegen, auch auf öffentlichen Straßen zu fahren.
Apropos öffentliche Straßen: Unter Level 5 verstehen wir komplett autonomes Fahren unter allen Bedingungen, sowohl in der Stadt als auch auf der Landstraße. Kommt Level 5 wirklich so früh, auch in der Stadt?
Nein, in meinen Augen kommt autonomes Fahren erst auf der Autobahn und auf nicht öffentlichen Flächen, wie zum Beispiel Speditionsgeländen und dann Überland, also auf der Landstraße und zum Schluss in der Stadt. Auf der Autobahn beziehungsweise auf dem Speditionshof gelingt es am sichersten und einfachsten Erfahrungen zu sammeln.
Zum autonomen Fahren gehört die nötige Absicherung: Wird sich viel zum jetzigen Stand ändern oder haben Hacker im Prinzip schon jetzt kaum Zugriff auf ein Fahrzeug? Denn wenn ich einen 40-Tonner auf der Autobahn fernsteuern kann …
Cyber Security ist ein ganz wichtiges Thema. Die Komponenten müssen einerseits abgesichert sein, sodass bemerkt wird, wenn ein Angriff gestartet wird und dieser abgewehrt werden kann. Andererseits muss die ganze Zeit sichergestellt werden, dass die gesamte Kommunikation noch integer ist. In dem Bereich bieten wir auch dank unserer Akquisition von Argus Cyber Security ganzheitliche Lösungen an, von der Planung des Konzepts bis zur umfangreichen Überwachung und zum Schutz der Kommunikation während des Fahrens.
Im Pkw-Bereich sind Hunderte Millionen Testkilometer nötig, bevor ein Fahrzeug auf die Straße kommt, die zumindest virtuell abgefahren werden müssen. Ist das die gleiche Größenordnung beim Nutzfahrzeug?
Das ist eine interessante Frage, weil sich hier die Experten uneinig sind. Es gibt eine Fraktion, die sagt, dass wir viel fahren müssen. Aus unserer Sicht müssen wir nicht so viel fahren wie beim Pkw, da wir schon sehr viel aus den Pkw-Fahrten gelernt haben. Ins System wird dann nur ein Lkw-Add-on eingespeist. Und dann muss auf der Straße getestet und gelernt werden. So kann man relativ schnell sehr nah an die 100-Prozent-Abdeckung kommen.
Ein gutes Stichwort auch für den Mischverkehr. Es gibt immer Fahrzeuge, die noch ohne neue Technik unterwegs sind. Bereitet Ihnen das Kopfschmerzen?
Das hat mir Kopfschmerzen bereitet. Inzwischen sehe ich eine Lösung dafür. Mithilfe von künstlicher Intelligenz kann man die Performance des Kamera-Systeme ganz, ganz viel verbessern. Wenn künstliche Intelligenz die Erfahrung nachbilden kann, die sie in ihren ganzen Jahren an Fahrpraxis gelernt haben und das multiplizieren mit allen Menschen und allen Fahrten, die gemacht wurden, dann kann die Performance extrem hoch werden. Wenn ich das System dann noch anreichere mit einem Radar oder mit einem Lidar, der durch Nebel blicken kann, dann fährt dieses Fahrzeug genauso gut wie sie.
Müssen solche Fahrzeuge gekennzeichnet sein?
Man meinte vor Kurzem noch, diese Fahrzeuge irgendwie kennzeichnen zu müssen. Wie bei einem Fahranfänger sozusagen. Idealerweise, und davon gehen wir aus, werden sie in Zukunft ein autonom fahrendes Fahrzeug gar nicht erkennen, weil es einfach so perfekt fährt.
Sehen wir im Jahr 2050 überall Level-5-Nutzfahrzeuge, sodass es quasi überhaupt keine Lkw-Fahrer mehr gibt?
Wahrscheinlich nicht. Es wird immer noch einen Prozentsatz an Fahrzeugen geben, der traditionell fährt. Und das ist dann idealerweise bis dahin auch nicht mehr ein Diesel, sondern ein elektrisch angetriebenes Fahrzeug. Aber 30 Jahre ist eine lange Zeit, wenn sie sich vorstellen, was sich in den letzten acht Jahren getan hat. Gerade die digitale Revolution wird im Transportsektor einen Umbruch bringen.
Wie sieht es mit dem autonomen Fahren bei Bussen aus? Ist das leichter zu realisieren, weil Busse nur im Stadtgebiet unterwegs sind?
Ja, Busse fahren nicht so schnell. Das Anparken an eine Haltestelle kann zum Beispiel völlig autonom geschehen. Es gibt hier auch sehr agile Hersteller. Allerdings erhöht das Fahren in der Stadt wieder die Komplexität. Dazu kommt die Frage der Akzeptanz: Würde man sich in so einen Bus hineinsetzen? Heute fahren wir auf Flughäfen in völlig autonom fahrenden Fahrzeugen. Traue ich mir zu, in einem autonomen Bus zu fahren? Das muss man sehen.
Ist eigentlich die Automatisierung auf dem Betriebshof auch etwas, womit sich Continental beschäftigt?
Wir sind involviert, wenn es um die Sensoren geht. Technologisch ist die Hochautomatisierung auf dem Betriebshof kein Problem. Was noch offen ist, ist die Gesetzgebung und die Absicherung. Wir müssen einfach Erfahrungen sammeln und dann aus den Fehlern lernen, ganz klar. Es werden Fehler passieren. Genauso in puncto Cyber Security. Es werden Angriffe und Hacks passieren, aber die Aufgabe der Industrie ist es, dort immer einen Schritt voraus zu sein.